Ernährungsexpertise: Woher wir wissen, was wir essen sollen

Sandwich mit Lineal

Bild: Pixabay, CC0

Das Thema Ernährung ist gegenwärtig in unserer Gesellschaft „in aller Munde“. Es ist nahezu unmöglich, den Konsum, die Zubereitung und die Einnahme von Essen abgekoppelt von wissenschaftlichem Wissen und Ernährungsexpertise zu erleben und zu denken. Gleichzeitig gibt es kaum einen anderen Bereich, in dem Expertenwissen heterogener, widersprüchlicher und kurzlebiger ist und auch öffentlich so gesehen wird. Dieses Spannungsfeld wirft zentrale Fragen auf: Woher wissen wir, was wir essen sollen? Welche Werkzeuge stehen uns zur Verfügung, um Nahrung zu beurteilen? Und warum werden manche Empfehlungen beinahe unhinterfragt angenommen und andere heftig kritisiert oder zurückgewiesen? Die bESSERwisser haben dazu recherchiert.

Um sich den Zusammenhang zwischen Nahrung und Befinden zu erklären, griffen Menschen schon früher auf spezifisches Wissen und Ernährungsexpertise zurück. Die Inhalte und Methoden von Ernährungslehren waren in der Geschichte jedoch höchst unterschiedlich. Auch die Frage, wer dieses Wissen generiert und damit definiert, was „gut oder schlecht“ für uns ist, unterliegt einem Wandel. Der Wissenschaftshistoriker Steven Shapin beschreibt in diesem Zusammenhang die Entwicklung von Ernährungswissen in der abendländischen Geschichte [1].

Selbstwissen und Erfahrung

Die traditionelle Diätetik umfasste in der Antike die unterschiedlichen Maßnahmen einer ganzheitlichen Lebensweise, mit dem Zweck gesund zu bleiben. Das Werk, insbesonders die Viersäftelehre, des griechischen Arztes und Anatomen Galenus (129-199) war bis ins 17. Jh. maßgeblich für jedes medizinische Verständnis. Essen und Trinken wurden immer nur als Teil der „sechs nicht natürlichen Dinge“ gesehen: Licht und Luft (aer), Speise und Trank (cibus et potus), Arbeit und Ruhe (motus et quies), Schlaf und Wachen (somnus et vigilia), Absonderungen und Ausscheidungen (secreta et excreta) und Anregung des Gemüts (affectus animi).

Wie in den anderen Bereichen war auch bei der Ernährung das Maßhalten und Vermeiden von Extremen wesentlich. Die goldene Mitte galt als bester Weg zu einem gesunden und moralischen Selbst. Dabei wirkte sich die Ernährung nicht nur auf den Körper aus, sondern beeinflusste auch das Temperament, die Stimmung und den Charakter des Menschen. Die Qualitäten der Nahrung (heiß, kalt, feucht, trocken) sowie die Kräfte und Tugenden der verspeisten Tiere und Pflanzen wurden analog zu denselben Qualitäten, die im Körper und der Psyche angelegt sind, gesehen. Sie wurden  in Hinsicht auf jene Qualitäten, die mit der Persönlichkeit, dem Zustand des Körpers und der Lebensphase korrespondierten, ausgewählt. Weine wurden beispielsweise dem Temperament und Alter der Person angepasst. Jüngere Personen sollten kühleren Wein trinken, da dieser besser ihrer wärmeren Konstitution entsprach, so war die Annahme. Somit waren diese analogen Schemata ein Mittel, um die am besten passende Nahrung für sich selbst auszuwählen, aber auch, um sich selbst oder andere zu charakterisieren (ein kalter Mensch, ein heißblütiger Mensch etc.).

Bei der Beurteilung von Essen lag der Fokus auf dem Selbstwissen. Ganz nach dem Motto: „Sei dein eigener Experte!“ wurde die Qualität von Essen aus der eigenen Erfahrung heraus bestimmt. Wurde ein Nahrungsmittel als wohlschmeckend kategorisiert, so war es auch „gut“ für den Essenden. Den Sinnen wurde ein hoher Stellenwert eingeräumt. Da die Sinne ein immer verfügbares Mittel sind, um Essen zu beurteilen, hatte jede Gruppe der Gesellschaft „Besitzrechte“ an der Diätetik – sie gehörte zum Alltagsleben.

Analyse und Auslagerung der Ernährungsexpertise

Ende des 18. Jahrhunderts verdrängte ein anderes Set an „Vokabeln“, nämlich jenes der Ernährungswissenschaften, das der Bevölkerung. Denn die Aufklärung markierte den Beginn einer (natur)wissenschaftlichen Betrachtungsweise von Ernährung und dem menschlichen Körper. Mit der Dominanz der Chemie in den Naturwissenschaften und dem damit verbundenen Fokus auf die stoffliche Zusammensetzung von Nahrung (Kohlenhydrate, Fette, Proteine, Vitamine und Mineralien) verschob sich die Art und Weise, wie Nahrung beurteilt wurde. So fiel die mechanische Vorstellung vom Mensch als Maschine zusammen mit dem chemischen Verständnis von Nahrungsmitteln, die sich aus einzelnen Bestandteilen zusammensetzen, spezifische Funktionen im Körper haben und diesen gleich einem Motor am Laufen halten. Das diätetische Anliegen ist nicht mehr nur Wohlbefinden, sondern die Frage, wie viel und welche Nahrung notwendig ist, um die körperlichen Prozesse in Gang zu halten. Als Maßzahl hierfür wurde die Kalorie eingeführt. Diese Erkenntnisse wurden auch politisch genutzt, um durch ausgeklügelte Kostsätze gesellschaftliche Konflikte um Nahrung zu entschärfen und die körperliche Reproduktion und Erhaltung der Arbeiterschaft zu gewährleisten.

Das Wissen um die Inhaltstoffe wurde zur neuen Bewertungsgrundlage. Die Ernährungsexpertise entzog sich dadurch aber mehr und mehr dem Individuum. So konnte in der diätetischen Lehre beispielsweise eine Gurke als feucht und kalt charakterisiert werden, Vitamine entzogen sich aber der direkten sinnlichen Analyse. Damit war ein Bezug der Qualitäten von Nahrung auf sich selbst eingeschränkt und Zuschreibungen von Qualitäten auf den Charakter werden heutzutage nur noch als Metapher verwendet (jemand ist kalt). Dies führte zu einer wachsenden Abhängig von externer Expertise (basierend auf chemischer Analyse)und staatlicher Autorität (z.B. in der Kennzeichnung).

Die Epoche der Reflexivität

Galten also jahrhundertelang Geschmack und Erfahrung als Zeichen für Qualität, wissen wir heute genau, woraus Essen besteht und glauben, dass Geschmack alleine kein vertrauenswürdiger Führer ist. Der Soziologe Jean-Claude Kaufmann beschreibt diese Entwicklung folgendermaßen: „Der heutige Mensch ist ein homo scientificus geworden, der sein eigenes Leben wie einen Versuchsgegenstand behandelt. Er isst nicht mehr so wie früher einfach das, was er schon immer gegessen hat. Er ist innovativ, und vor allem möchte er bis ins kleinste Detail wissen, was er da auf dem Teller hat. Er möchte nicht mehr dumm essen“ [2].

Durch eine Vervielfachung von Wahl- und Handlungsmöglichkeiten und einer damit einhergehenden Notwendigkeit sich festzulegen, basiert der gegenwärtige Geschmack stark auf individuellen Überzeugungen. Trotzdem – oder weil wir in unserer heutigen Gesellschaft immer mehr über unsere Essverhalten nachdenken – sehen wir uns aber gleichzeitig mit endlosen Widersprüchen konfrontiert. Dies trifft in einem besonders offensichtlichen Ausmaß auf das Feld der Ernährung zu. Um sich in diesem Stimmengewirr orientieren zu können, muss das Individuum vermehrt Überzeugungen und Glaubenssätze entwickeln, an die es sich halten bzw. an denen es sich festhalten kann. Dies passiert im Prozess der „narrativen Selbsterfindung“, also indem wir bestimmte Geschichten entwickeln und unsere Handlungen darauf aufbauen und rechtfertigen. Diese speisen sich laut Kaufmann aus unzähligen „Zauberformeln“ – individuellen Ideen und kleinen Ritualen, welche die Lebensmittelwahl steuern und nicht unbedingt widerspruchsfrei sein müssen: Ich esse kein Fett, nur Butter, die hausgemacht ist und die nur auf frisch gebratenem Fleisch, das ist okay! Daneben entstehen normative Klassifizierungen, die sich aus öffentlichen Diskursen speisen: Frisches Gemüse ist gut, Pommes sind schlecht!

Fazit

Abschließend kann gesagt werden, dass Essende heute weder von der einen wissenschaftlichen Theorie gelenkt werden, noch ihrem Körper und seinen Begierden völlig ausgeliefert sind. Vielmehr gelingt es ihnen, mit der Kunst des kleinen Arrangements diese unterschiedlichen und oft widersprüchlichen Informationen, Argumentationsregister, persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen zu einem kohärenten Ganzen zusammenzubasteln.

Referenzen:

[1] Kaufmann, J.-C. (2006). Die Nahrungsmittel. Von der Ordnung zur Unordnung. In Kochende Leidenschaft. Soziologie vom Kochen und Essen (pp. 15-72). Konstanz: UVK.

[2] Shapin, S. (2014). You Are What You Eat: Historical Changes in Ideas about Food and Identity, Historical Research 87, pp. 377-392.

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