Der Begriff Bionik setzt sich aus den beiden Wörtern Biologie und Technik zusammen. Dementsprechend gestaltet sich auch das relativ junge und interdisziplinäre Forschungsfeld der Bionik: Strukturen und Prozesse in der Natur werden beobachtet und analysiert. Pflanzen und Tiere demonstrieren oft vorbildlich, wie bestimmte Herausforderungen am einfachsten und effizientesten bewältigt werden können. Die Erkenntnisse daraus und somit die Konzepte aus der Natur werden in technische Anwendungen und Lösungsstrategien umgewandelt.
Oft werden die Begriffe Bionik und Biomimikry gleichbedeutend verwendet. Genaugenommen lassen sie sich allerdings schon voneinander differenzieren: Während Fachleute bei Bionik in der Regel von konkreten Einzellösungen sprechen, bezieht sich Biomimikry eher auf die Nachahmung ganzer natürlicher Systeme. Dabei wird bei der Biomimikry nicht nur eine einzelne Technik übernommen, sondern ein umfassendes ökologisches Prinzip nachgebildet.
Der italienische Erfinder Leonardo da Vinci gilt als Pionier der Bionik. Im Jahr 1505 veröffentlichte er sein Manuskript „Über den Vogelflug“ und verwendete seine Erkenntnisse aus der Beobachtung der Tiere für den Entwurf von Flugmaschinen nach dem Vorbild von Vögeln und Fledermäusen. Auch einen Hubschrauber konstruierte da Vinci, bei dem ihm die Frucht des Schneckenklees als Vorlage diente.
Die erste bionische Erfindung in Deutschland wurde im Jahr 1920 von Raoul Heinrich Francé patentiert: Ein Salz- oder Gewürzstreuer mit seitlichen Öffnungen. Francé orientierte sich dafür an der Samenkapsel des Mohns.
Im Jahr 1951 entwickelte und patentierte der Schweizer Ingenieur Georges de Mestral den Klettverschluss unter dem Namen „Velcro“ (von franz. velours – Samt, crochet – Haken). Das Haftprinzip biegsamer Widerhaken hatte sich der Jäger vom Kletten-Labkraut abgeschaut, die er nach Jagdausflügen immer wieder aus dem Fell seines Hundes entfernen musste.
In den 1950er Jahren prägte Otto Schmitt den Begriff „biomimetics“ bzw. „biomimicry“. Er beschrieb damit die „Nachahmung von Leben" (von altgriech. Bios – Leben, mimesis –Nachahmung) – also im Prinzip das, was heute im deutschsprachigen Raum unter dem Begriff Bionik verstanden wird.
Der deutsche Begriff Bionik geht jedoch ursprünglich auf die Bezeichnung „bionics“ zurück, welche 1960 vom US-amerikanischen Arzt und Air Force Colonel Jack E. Steele auf einer Konferenz erstmals verwendet wurde.1 Im englischen Sprachraum begrenzt sich dieser Begriff zumeist auf die Konstruktion von künstlichen Körperteilen.
Die Natur beeindruckt uns immer wieder mit ihrem riesigen Repertoire an Farben und Formen. Die Vielfalt der Lebewesen auf unserem Planeten ist allerdings nicht zufällig, sondern durch einen langen Evolutionsprozess über 3,8 Milliarden Jahre hinweg entstanden, und oft sind funktionale Wunderwerke das Ergebnis. Die Bionik hat dies erkannt und versucht, sich für technische Fragestellungen an oftmals genialen Lösungen der Natur zu orientieren und betrachtet Lebewesen mit dem Blick von Techniker:innen.
Die sogenannte Analogieforschung versucht, die Lösung eines technischen Problems durch geeignete Vorbilder in der Natur zu finden. Analogien in der Natur werden gesucht, diese werden analysiert, und schließlich wird an Lösungen für das Problem getüftelt. Die Gebiete, auf denen es großes Potential für Bionik und Biomimikry gibt, sind weitreichend. Der deutsche Zoologe Werner Nachtigall, einer der Pioniere der Bionik, gliederte die Bionik in die drei übergeordneten Disziplinen Konstruktionsbionik, Verfahrensbionik und Informationsbionik, innerhalb derer sich wiederum viele Fachrichtungen finden1. Beispiele dafür, wo die Trickkiste der Natur als Vorbild dient und die Bionik heute bereits Anwendung findet, sind unter anderem:
Der Artikel liefert im weiteren Verlauf einen Überblick über konkrete Anwendungsbereiche in den verschiedensten Sektoren.
Auch die Luftfahrt kann von der Natur lernen. Die Bionik hat das Fliegen überhaupt erst ermöglicht – Leonardo da Vinci hat mit seinen Flugmaschinen Pionierarbeit geleistet.
In der Bau- oder Architekturbionik, werden Phänomene aus der Natur für Architektur und technische Funktionen von Gebäuden angewendet.
Auch natürliche Bewegungsabläufe von Tieren und Menschen werden analysiert und liefern Ideen für technische Anwendungsmöglichkeiten, beispielsweise als Vorbild für Roboter.
Das Beobachten von Abläufen in der Natur hat auch in der Biomedizin zu zahlreichen Neuerungen geführt.
Bionik und Biomimikry bieten vielversprechende Ansätze zur Lösung aktueller gesellschaftlicher und technischer Herausforderungen. So etwa wird das Verhalten von Tieren – wie beispielsweise Bienen, Ameisen oder Vögeln – in Gruppen untersucht, um deren kommunikatives Verhalten zu verstehen. Diese Erkenntnisse können Anwendung in der Optimierung von Logistiksystemen, Verkehrsflüssen oder der Steuerung autonomer Fahrzeuge finden. Beispielsweise orientieren sich moderne Algorithmen für selbstfahrende Autos bereits an solchen Schwarmverhalten, um effizientes Verhalten im Straßenverkehr zu ermöglichen. Auch für ressourcenschonende Materialkreisläufe, Abfallvermeidung und die Entwicklung widerstandsfähiger Systeme liefert die die Natur wertvolle Impulse.
Fortschritte in der Technologie – insbesondere im Bereich der künstlichen Intelligenz (KI) – eröffnen zusätzlich neue Möglichkeiten für innovative bionische Anwendungen. Selbst viele KI-Systeme sind von biologischen Prozessen inspiriert. So werden etwa Informationen nach dem Vorbild des menschlichen Gehirns verarbeitet oder visuelle Fähigkeiten von Insekten nachgebildet.
Der Fortschritt durch Bionik und Biomimikry weckt große Hoffnung für eine nachhaltige Zukunft. Gleichzeitig gibt es auch kritische Stimmen: Vor allem der Nachbau von Roboter(teilen) nach Vorbild des Menschen wird oft nicht nur mit Faszination, sondern auch mit Skepsis verfolgt. Roboter können heute beispielsweise bereits komplexe Handlungen wie das Greifen und Orientieren eines Gegenstands selbst erlernen. Diese Entwicklungen eröffnen nicht nur neue technologische Möglichkeiten, sondern geben auch Denkanstöße für weiterführende ethische und gesellschaftliche Diskussionen und Untersuchungen.
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Text überarbeitet, 10.07.2025, nr
as, 23.12.2019
1. Nachtigall, W. Bau-Bionik. Springer Berlin Heidelberg (2003). doi:10.1007/978-3-662-05991-3.
2. Akademie, Ö. & Wissenschaften, D. Bionik-Potenzial in Österreich Endbericht. (2006).
3. Barthlott, W., Cerman, Z. & Stosch, A. K. Der Lotus-Effekt: Selbstreinigende Oberflächen und ihre Übertragung in die Technik. Biol. Unserer Zeit34, 290–296 (2004).
4. Baik, S. et al. A wet-tolerant adhesive patch inspired by protuberances in suction cups of octopi. Nature 546, 396–400 (2017).
5. Baum, C., Siebers, D., Fleischer, L. G. & Meyer, W. Eine Delfinhaut für Schiffe: Umweltneutrales Antifouling. Biol. Unserer Zeit34, 298–305 (2004).
6. Krieger, K. Do pool sharks swim faster? Science305, 636–637 (2004).
7. Scarselli, D., Lopez, J. M., Varshney, A. & Hof, B. Turbulence suppression by cardiac-cycle-inspired driving of pipe flow. Nature621, 71–74 (2023).
8. Weaver, J. C. et al. The stomatopod dactyl club: A formidable damage-tolerant biological hammer. Science (80-. ).336, 1275–1280 (2012).
9. Anlauf, D. Verpackungen in Natur Und Technik. Bionische Materialien Und Werkstoffe. (Technik, 2020).
10. Pfingstl, T., Kerschbaumer, M. & Shimano, S. Get a grip-evolution of claw shape in relation to microhabitat use in intertidal arthropods (Acari, Oribatida). PeerJ2020, e8488 (2020).
11. Yue, T., Bloomfield-Gadêlha, H. & Rossiter, J. Snail-inspired water-enhanced soft sliding suction for climbing robots. Nat. Commun. 2024 15115, 1–10 (2024).
12. Ortiz-Catalan, M., Mastinu, E., Sassu, P., Aszmann, O. & Brånemark, R. Self-Contained Neuromusculoskeletal Arm Prostheses. N. Engl. J. Med.382, 1732–1738 (2020).
13. Festin, C. et al. Creation of a biological sensorimotor interface for bionic reconstruction. Nat. Commun. 2024 15115, 1–15 (2024).
14. Medizinische Universität Innsbruck. Bionische Forschung an der Medizinischen Universität Innsbruck, am 02.07.25
15. Semmler, L. et al. Silk-in-Silk Nerve Guidance Conduits Enhance Regeneration in a Rat Sciatic Nerve Injury Model. Adv. Healthc. Mater.12, (2023).