Cardioide: Medizinische Herz-Revolution in der Petrischale

Forscher:innen vom IMBA in Wien ist es gelungen, Cardioide in Zellkultur herzustellen, Bild: Pixabay, CCO

Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind weltweit die häufigste Todesursache. Forscher:innen in Wien ist es gelungen, ein Mehrkammer-Herzorganoid herzustellen, um so die komplizierte Entwicklung des menschlichen Herzen nachzuvollziehen. Ein besseres Verständnis von Herzerkrankungen kann einen enormen Beitrag zur Entwicklung neuer Therapiemöglichkeiten leisten.

Weltweit sterben jährlich rund 18 Millionen Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, etwa jedes 50. Neugeborene wird mit einem Herzfehler geboren. Die Entwicklung neuer Therapieansätze gestaltet sich jedoch schwierig, da bislang ein funktionierendes physiologisches Modell des Herzens als Grundlage zum Verständnis dieser Erkrankungen und Fehlbildungen fehlte. Die Forschungsgruppe um Sasha Mendjan am Institut für Molekulare Biotechnologie (IMBA) in Wien hat nun so ein Herz-Organoid, ein Herzmodell, entwickelt und ihre Erkenntnisse am 28. November 2023 in der renommierten Zeitschrift Cell veröffentlicht.

Cardioid - neues Modell zur Forschung am Herzen

Organoide sind dreidimensionale Zellgruppen, die im Labor in vitro – also in der Petrischale – gezüchtet werden können. Diese Zellgruppen können sich zu komplexen Strukturen organisieren, die den Gewebestrukturen von Organen ähneln. Daher kommt auch der Name Organoid, was so viel wie „organartig“ bedeutet. Als Ausgangsmaterial für Organoide dienen entweder pluripotente Stammzellenembryonale Stammzellen (ES-Zellen) oder induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) – oder adulte Stammzellen (Gewebestammzellen). Diese Zellen sind noch auf keinen bestimmten Organtyp festgelegt und haben die Fähigkeit, sich unter kontrollierten Bedingungen im Labor zu jedem Zell- und somit Gewebetyp des menschlichen Körpers zu entwickeln. Siehe dazu auch unsere Artikel "Stammzellen - Hoffnungsträger und Stein des Anstoßes" sowie "Organoide - Modelle aus Stammzellen in der Petrischale".

Es wurden bereits verschiedene Arten von Organoiden konstruiert - zum Beispiel Darmorganoide oder Hirnorganoide. Das Mendjan-Labor entwickelte 2021 ausgehend von menschlichen induzierten pluripotenten Stammzellen das erste kammerartige Herzorganoid, ein so genanntes Cardioid. Dieses bildet die Entwicklung der linken Herzkammer nach und ist laut Mendjan „ein Grundsatzbeweis und wichtiger Schritt nach vorne“.

Auf dieser Arbeit bauten die Forscher:innen nun ihre neue Studie auf. Erst kultivierten sie einzelne Organoide, die verschiedene Teile des Herzens nachahmen. „Dann fragten wir: Wenn wir alle diese Organoide gemeinsam entwickeln lassen, erhalten wir dann ein Herzmodell, das koordiniert schlägt wie das frühe menschliche Herz?“, ergänzt Mendjan.
Diese einzelnen Strukturen wurden dann zusammen gezüchtet, und „tatsächlich breitete sich ein elektrisches Signal vom Vorhof in die linke und dann in die rechte Herzkammer aus - genau wie in der frühen fötalen Herzentwicklung bei Tieren“, erinnert sich Mendjan. „Diesen grundlegenden Prozess haben wir nun erstmals in einem menschlichen Herzmodell mit all seinen Kammern beobachtet.“

Mit dem früheren Cardioid konnten die Forscher:innen Form und Entstehung der einzelnen Herzstrukturen nachvollziehen. Mit diesem neu entwickelten Modell können nun Einblicke in die frühe Herzentwicklung gewonnen werden, und erstmals kann nachvollzogen werden, wie das menschliche Herz zu schlagen beginnt.

Darüber hinaus ist es nun möglich, anhand dieser neuen Herzmodelle nachzuverfolgen, wie sich Unterschiede in der Genexpression der Herzkammern auf die spezifischen Kontraktionsmuster der Herzkammern auswirken. Die Forscher:innen können anhand von Organoiden auch untersuchen, wie diese Kontraktionsmuster zu der komplizierten Kommunikation zwischen den menschlichen Herzkammern führen.

Möglichkeit zur individualisierten Therapie

Auch kammerspezifische Defekte können nun besser untersucht werden. Dafür hat das Forscher:innen-Team eine neue Screening-Plattform erstellt, in der die Auswirkungen von Teratogenen und Mutationen erfasst werden können. Teratogene sind äußere Einflüsse, zum Beispiel chemische Stoffe, die Fehlbildungen verursachen. Zu den bekanntesten Terarotegenen zählen Thalodimod und Retinoid-Derivate, die etwa bei der Behandlung von Akne oder Leukämie eingesetzt werden. Beide sind dafür bekannt, dass sie beim Fötus schwere Herzfehler verursachen können. Auch in den Herzorganoiden lösen diese Teratogene ähnliche, schwere kammerspezifische Defekte aus.

Auf vergleichbare Art und Weise führen Mutationen von Transkriptionsfaktorgenen zu kammerspezifischen Defekten- diese Beobachtung wurde auch in der menschlichen Entwicklung beobachtet. Durch das gleichzeitige Betrachten mehrerer Messwerte wird ein ganzheitlicher Screening-Ansatz geschaffen: "Unsere Tests zeigen, dass Mehrkammer-Kardioide die embryonale Herzentwicklung rekapitulieren und mit hoher Spezifität störende Auswirkungen auf das gesamte Herz aufdecken können", erklärt Mendjan.

Die neuen Mehrkammer-Herzorganoide können auch noch in anderen Bereichen eingesetzt werden. Etwa für toxikologische Studien zur Entwicklung neuer Medikamente, die auf die jeweiligen Herzkammern spezifisch wirken. So gibt es etwa für die weitverbreiteten Herzrhythmusstörungen bislang noch keine adäquate medikamentöse Behandlung, da die individuellen Ursachen der Herzfehler oft unbekannt sind. Herzorganoide aus den Stammzellen Betroffener könnten aber Aufschluss über Entwicklungsfehler und mögliche Behandlungen geben.
Besonderen Fokus legt die Forschungsgruppe darauf, die Herzentwicklung noch besser zu verstehen. „Mit den aktuellen Forschungsergebnissen haben wir jetzt eine Grundlage geschaffen, um das weitere Wachstum und das Regenerationspotenzial des Herzens zu untersuchen“, gibt Mendjan einen Ausblick in die Zukunft.

JB, 14.12.2023


Quellenangaben

Originalpublikation:

Schmidt C., Deyett A., Ilmer T., Haendeler S., Caballero AT, Novatchkova M., Netzer MA, Ginistrelli LC, Mancheno Juncosa E., Bhattacharya T., Mujadzic A., Pimpale L., Jahnel SM, Cirigliano M., Reumann D., Tavernini K., Papai N., Hering S., Hofbauer P. and Mendjan S: Multi-chamber cardioids unravel human heart development and cardiac defects. Cell. doi.org/10.1016/j.cell.2023.10.030

Quelle:

Pressaussendung des IMBA vom 28.11.2023