Epigenetik 1: Wie unsere Gene gesteuert werden - eine Einführung

Die Epigenetik untersucht, wie Gene gesteuert werden, Bild: Pixabay, CCO

Viele Gene von Pflanzen, Tieren und auch einfachen Lebewesen werden nicht ständig abgelesen, sondern gezielt an- und abgeschaltet. Wie sich Wachstum, Entwicklung oder Umwelteinflüsse ohne Veränderung der DNA-Sequenz auf die Genaktivität auswirken und welche Mechanismen dahinterstecken, untersucht die Epigenetik. Eine kurze Einführung in dieses spannende Forschungsgebiet und konkrete Beispiele im Überblick.

An- und Ausschalter für Gene

„Das Leben ist mehr als die Summe seiner Gene“ – diesen Ausspruch hörte man öfters von Thomas Jenuwein, einem der Pioniere der Epigenetik, wenn er über seine Arbeit sprach [1]. Der Deutsche lebte und forschte lange in Wien und legte im Jahr 2000 mit seiner Arbeit einen Meilenstein auf dem Gebiet der Epigenetik: Mit seinem Team am Institut für Molekulare Pathologie (IMP) entdeckte er einen wichtigen Mechanismus, der beim Menschen und bei der Maus die Gene steuert, ohne dabei die DNA zu verändern [2].

Epigenetik als Kontrollebene über der DNA

Vor der Entschlüsselung des menschlichen Genoms glaubte man, dass allein die DNA für die Einzigartigkeit jedes Menschen verantwortlich und die Steuerung der Gene in deren Sequenz selbst festgelegt sei. Dementsprechend große Hoffnung wurde auch in das Human Genome Project, ein groß angelegtes Projekt zur Sequenzierung des gesamten menschlichen Erbguts, gesetzt [3]. Man war der Ansicht, damit den Menschen zu entschlüsseln und Krankheiten heilen zu können. Doch schon bald nach der Veröffentlichung des noch teilweise unvollständigen Human-Genoms im Jahr 2000 bzw. der Publikation der vollständigen Sequenz im Jahr 2003 folgte die Ernüchterung: Gene steuern nicht nur, sondern werden selbst auch gesteuert.

Wie Jenuwein und andere Epigenetiker*innen dann zeigen konnten, gibt es eine weitere Kontrollebene über der DNA: so genannte epigenetische Mechanismen, welche als „Schalter“ fungieren und Gene ein- und ausschalten können, und das zum Teil dauerhaft. Der Name „Epigenetik“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet übersetzt so viel wie „über“ oder „oberhalb“ der Genetik. Die Gesamtheit der epigenetischen Information wird als „Epigenom“ bezeichnet und stellt die Regulationsebene über dem Genom dar. Das Forschungsfeld der Epigenetik entwickelte sich im Lauf der folgenden Jahre rasant weiter und ist noch immer ein aktuelles Forschungsthema [4-6].

Obwohl die Epigenetik somit ein noch ein relativ junger Forschungszweig ist und erst Anfang der 2000er-Jahre in den Fokus internationaler Forschungsarbeiten rückte, gehen ihre Ursprünge in der Geschichte viel weiter zurück: Der Begriff Epigenetik selbst wurde bereits im Jahr 1942 vom britischen Entwicklungsgenetiker Conrad Hal Waddington geprägt. Dieser vertrat damals schon die Ansicht, dass aus den Erbanlagen eines Organismus im Laufe der individuellen Entwicklung eine Reihe verschiedener Erscheinungsformen entstehen könne.

Chemische Veränderungen als „Gen-Schalter“

Im Lauf der Entwicklung eines Organismus kommt es zu so genannten epigenetischen Fixierungen. Diese bewirken, dass bestimmte Gene abgelesen bzw. stillgelegt werden und totipotente Zellen sich schrittweise zu den verschiedenen Körperzellen spezialisieren können (siehe Abbildung 1). Auch die Umwelt beeinflusst, ob Gene sich im „On“- oder „Off“-Zustand befinden.

Abbildung 1: Funktion epigenetischer Veränderungen. Im Lauf der Entwicklung reifen Zellen und spezialisieren sich. Jeder Pfeil deutet eine Zellteilung an, bei der sich Zellen ohne Sequenzänderung der DNA verändern und dies an die Tochterzellen weitergeben, Bild: B.Kleine, CC BY-SA 3.0 DE, via Wikimedia Commons

Die Epigenetik geht den Fragen nach, wie im Laufe des Lebens eines Individuums, aber auch in verschiedenen Organen oder Geweben, die Aktivität von Genen variieren kann und welche Faktoren die Aktivität von Genen bestimmen. Sie untersucht außerdem, wie solche Schalterstellungen, die nicht auf Sequenzänderungen der DNA beruhen, an Tochterzellen und nächste Generationen weitergegeben werden können und wie sich Umwelteinflüsse auf die Genaktivität auswirken.

Die DNA liegt im Zellkern assoziiert mit ganz speziellen Proteinen, den Histonen, vor. Diese wickeln die DNA ähnlich einer Perlenkette auf und ermöglichen es erst, dass der rund zwei Meter lange DNA-Faden einer Zelle äußerst kompakt in Form von Chromosomen im Zellkern verpackt werden kann (siehe Abbildung 2). Den Komplex aus DNA, Histonen und weiteren speziellen Proteinen nennt man Chromatin. 

Heute weiß man, dass die Histone eine wichtige Rolle bei der Genregulation spielen: Das Ein- und Ausschalten von Genen wird durch so genannte epigenetische Modifikationen reguliert. Das können reversible chemische Veränderungen der DNA selbst oder eben der Histone sein. Das Anheften oder Entfernen bestimmter chemischer Gruppen führt dazu, dass Gene besser oder schlechter abgelesen werden, dabei kommt es aber zu keiner Änderung der DNA-Sequenz. Auch RNA-gesteuerte Mechanismen spielen in der Epigenetik eine wichtige Rolle. Näheres zu den Mechanismen der Genregulation beschreibt unser Artikel "Epigenetik: Welche Mechanismen unsere Gene kontrollieren". 

Abbildung 2: Erst das Aufwickeln der DNA um Histone ermöglicht ihre kompakte Verpackung in Form von Chromosomen in Zellkern, Bild: Courtesy: National Human Genome Research Institute

Epigenetische Prozesse im Tier- und Pflanzenreich

Epigenetische Mechanismen kommen in Lebewesen mit echtem Zellkern, wie beispielsweise Tieren, Pilzen oder Pflanzen, aber auch in Bakterien und Archaeen vor [7,8]. Für das Entstehen des jetzigen Lebens spielte die Epigenetik eine entscheidende Rolle. Nur auf Basis von epigenetischen Mechanismen kann unser Erbgut kompakt in einen Zellkern verpackt werden. Außerdem ermöglicht es die Epigenetik überhaupt erst, dass ein Organismus mit unterschiedlichen Zelltypen entstehen kann. Signale von innen und außen bestimmen, wann und in welchem Ausmaß bestimmte Gene ein- und ausgeschaltet werden und wie stabil diese epigenetischen Veränderungen sind. Dadurch wird das immer gleiche Erbgut in unterschiedlichen Zelltypen verschieden abgelesen, oder in anderen Worten: Das „Buch des Lebens“ kann durch epigenetische Mechanismen auf verschiedene Art und Weise interpretiert werden.

Epigenetik beim Menschen

Eineiige Zwillinge sind ein gutes Beispiel dafür, dass für die Entwicklung und Ausprägung von Merkmalen nicht nur die DNA ausschlaggebend ist. Obwohl Zwillinge das gleiche Erbgut in allen ihren Zellen tragen, unterscheiden sie sich doch zu einem bestimmten Grad. Dafür ist ihre Umgebung verantwortlich, da sie die epigenetischen Veränderungen ihres Genoms verschieden prägt.

Ein weiteres Beispiel, an dem epigenetische Prägung untersucht wurde, ist der so genannte niederländische Hungerwinter 1944/45, als die Deutschen Nahrungsmitteltransporte in die Niederlande blockierten [9-11]. Die zu dieser Zeit schwangeren Holländerinnen brachten untergewichtige Babys zur Welt, was aufgrund der Umstände nicht weiter erstaunlich ist. Doch den Kindern wurde auch ein „epigenetisches Gedächtnis“ mitgegeben: Obwohl sie später immer genug zu essen hatten, entwickelten sie sich anders als ihre Geschwister, die im Mutterleib keinen Mangel litten. Der Nachwuchs aus dem Hungerwinter litt überdurchschnittlich oft an Depressionen, Übergewicht oder Schizophrenie. Der Hunger hatte seine Spuren im fetalen Erbgut hinterlassen. Des Weiteren stellte sich heraus, dass die Töchter der Hungerwinter-Mütter selbst verhältnismäßig kleine Kinder zur Welt brachten, obwohl sie gut versorgt waren. Die Information über die Lebensbedingungen der Großmütter hatte sich also über eine Generation hinweg auch auf die Erbsubstanz der Enkel*innen übertragen.

Heute weiß man außerdem, dass das Epigenom des Menschen sowohl durch Sport als auch durch Ernährung beeinflusst werden kann – sowohl positiv als auch negativ.

Bestimmte Chemikalien wurden bereits als riskant bezüglich ihrer Wirkung auf das menschliche Epigenom eingestuft. Auch von bestimmten Krankheiten beim Menschen weiß man heute, dass sie nicht auf Änderungen der DNA-Sequenz beruhen, sondern mit einem veränderten Epigenom in Zusammenhang stehen.

Epigenetik im Tierreich

Ein offensichtliches und schon lange bekanntes Paradebeispiel für epigenetische Regulation findet sich im Tierreich bei den Insekten: Bei den Bienen entscheidet einzig und allein die Fütterung, ob aus einer Larve eine Arbeiterin oder eine Königin entsteht. Nur jene Larven, die mit „Gelee Royale“ aufgezogen werden, entwickeln sich zu einer Königin. Dieses spezielle Futter bewirkt epigenetische Modifikationen, die über Aussehen, Lebensdauer und Verhalten der Tiere entscheiden [12]. 

Abbildung 3: Die Fellfarbe der dreifärbigen weiblichen Glückskatzen beruht auf einem epigenetischen Phänomen, Bild: Pixabay, CCO

Die Tatsache, dass dreifarbig gescheckte Katzen, auch als Glückskatzen oder Calico-Katzen bekannt (siehe Abbildung 3), immer weiblich sind, beruht ebenfalls auf einem epigenetischen Phänomen. Das Gen für die rötliche oder schwarze Fellfarbe von Katzen befindet sich auf dem X-Chromosom. Weibliche Tiere besitzen zwei X-Chromosomen mit je einem Gen für die Fellfarbe besitzen, und während der Embryonalentwicklung wird eines ihrer beiden X-Chromosomen ausgeschaltet – ein Phänomen, das als X-Chromosomen-Inaktivierung bekannt ist. Die Inaktivierung muss in den verschiedenen Körperregionen der Katze nicht immer das gleiche X-Chromosomen betreffen. Das Ergebnis bei Katzen von Eltern mit unterschiedlicher Fellfärbung sind somit die auffällig gefleckten dreifärbigen Glückskatzen. Da Kater nur ein X-Chromosom haben, ist dies bei ihnen grundsätzlich nicht möglich. Die Farbgebung der rot-schwarz gemusterten weiblichen Schildpatt-Katzen ist  auf dassselbe Prinzip zurückzuführen.

Epigenetik bei Pflanzen

Viele Prinzipien der epigenetischen Regulation wurden bei Pflanzen entdeckt, da sie dort wichtige und auffällige Eigenschaften bestimmen kann Ein Beispiel ist hier die unterschiedliche Blühzeit von Pflanzen als Anpassung an den Jahreszeitenwechsel: Einige Pflanzen brauchen eine Kälteperiode im Winter, bevor sie zu blühen beginnen. Die Kälte bewirkt bei ihnen epigenetische Umschaltungen, die das Blühen erst ermöglichen. Die epigenetischen Veränderungen werden aber bei der Samenbildung wieder rückgängig gemacht, damit die Pflanzen im nächsten Winter wieder reagieren können [13].

Einige epigenetische Veränderungen bei Pflanzen sind so stabil, dass sie auf die Folgegenerationen weitergegeben werden können. In Analogie zu genetischen Mutationen werden sie als Paramutation bezeichnet. Die Pigmentbildung in Maiskörnern ist ein viel studiertes Beispiel dafür [14].

Auch für die Anpassung an Umweltbedingungen wie beispielsweise Trockenheit, Temperaturveränderungen oder Schädlingsbefall sind epigenetische Modifikationen von großer Bedeutung.

Die Mechanismen der epigenetischen Regulation bei Pflanzen sind zwar prinzipiell denen der Tiere ähnlich. Oft sind bei Pflanzen jedoch mehr epigenetische Regulatoren beteiligt als bei anderen Organismen, einschließlich des Menschen. Dies ist vermutlich dadurch begründet, dass Pflanzen oft unter unterschiedlichsten und unvorhersehbaren Bedingungen überleben müssen [15].

Epigenetik-Forschung in Österreich

Wie Genetik und Epigenetik zusammenwirken, wird aktuell intensiv untersucht und wirft immer neue Fragen auf. Die Epigenetik ist und bleibt somit eines der spannendsten und am schnellsten expandierenden Forschungsgebiete. Weltweit untersuchen unzählige Wissenschaftler*innen, wie die „Kontrollebene über der DNA“ im Detail funktioniert.

Auch in Österreich arbeiten etliche Forschungsgruppen an epigenetischen Kontrollmechanismen. Viele von ihnen gehören dem europaweiten „Epigenome Network of Excellence“ an, welches auf seinem öffentlichen Wissensportal auch umfangreiche Information zum aktuellen Stand der Epigenetik-Forschung bietet. Die „Arbeitsgemeinschaft Epigenetik“ fördert die Vernetzung der Akteure im Bereich Epigenetik in Österreich.

Wir bedanken uns bei Ortrun Mittelsten Scheid für ihre Hilfe bei diesem Beitrag!

as, 04.11.2022


Quellenangaben

[1] Thomas Jenuwein im Jahresbericht 2013 der Max-Planck-Gesellschaft, S. 23 ff

[2] Lachner M., O'Carroll D., Rea S., Mechtler K., Jenuwein T.: Methylation of histone H3 lysine 9 creates a binding site for HP1 proteins. Nature. 2001 Mar 1;410(6824):116-20. doi: 10.1038/35065132. PMID: 11242053.

[3] The human genome project

[4] Hamilton JP: Epigenetics: principles and practice. Dig Dis. 2011;29(2):130-5. doi: 10.1159/000323874. Epub 2011 Jul 5. PMID: 21734376; PMCID: PMC3134032.

[5] Fitz-James MH, Cavalli G.: Molecular mechanisms of transgenerational epigenetic inheritance. Nat Rev Genet. 2022 Jun;23(6):325-341. doi: 10.1038/s41576-021-00438-5. Epub 2022 Jan 4. PMID: 34983971.

[6] Nora M. Al Aboud; Connor Tupper; Ishwarlal Jialal, NIH: Genetics, Epigenetic Mechanism, updated Aug 2022

[7] Willbanks A., Leary M., Greenshields M. et al.: The Evolution of Epigenetics: From Prokaryotes to Humans and Its Biological Consequences. Genet Epigenet. 2016 Aug 3;8:25-36. doi: 10.4137/GEG.S31863. PMID: 27512339; PMCID: PMC4973776.

[8] Nasrullah, Hussain A., Ahmed S., Rasool M., Shah AJ: DNA methylation across the tree of life, from micro to macro-organism. Bioengineered. 2022 Jan;13(1):1666-1685. doi: 10.1080/21655979.2021.2014387. PMID: 34986742; PMCID: PMC8805842.

[9] Lumey LH, Stein AD, Kahn HS et al.: Cohort profile: the Dutch Hunger Winter families study (2007). Int J Epidemiol. 2007 Dec;36(6):1196-204. doi: 10.1093/ije/dym126. Epub 2007 Jun 25. PMID: 17591638.

[10] Tobi E., Goeman J., Monajemi R. et al.: DNA methylation signatures link prenatal famine exposure to growth and metabolism (2014). Nat Commun 5, 5592 (2014). https://doi.org/10.1038/ncomms6592

[11] Stenz L., Schechter DS, Serpa SR and Paoloni-Giacobino A.: Intergenerational Transmission of DNA Methylation Signatures Associated with Early Life Stress (2018). Curr Genomics. 2018 Dec;19(8):665-675. doi: 10.2174/1389202919666171229145656. PMID: 30532646; PMCID: PMC6225454.

[12] Lyko F. et al.: The Honey Bee Epigenomes: Differential Methylation of Brain DNA in Queens and Workers (2010). PLoS Biology 8 (11): e1000506. http://journals.plos.org/plosbiology/article/file?id=10.1371/journal.pbio.1000506&type=printable

[13] Hepworth J., Dean C.: Flowering Locus C's lessons: conserved chromatin switches underpinning developmental timing and adaptation (2015). Plant Physiology 168(4): 1237-1245

[14] Chandler VL: Paramutation: from maize to mice (2007). Cell 128(4): 641-645

[15] Pikaard CS, Mittelsten Scheid O.: Epigenetic regulation in plants (2014). Cold Spring Harbor Perspectives in Biology 6(12): a019315