Bionik und Biomimikry – wenn die Natur als Vorbild dient

Haut von Gecko , Bild: Pixabay, CCO

Der Begriff Bionik setzt sich aus den beiden Wörtern Biologie und Technik zusammen. Dementsprechend gestaltet sich auch das relativ junge und interdisziplinäre Forschungsfeld der Bionik: Strukturen und Prozesse in der Natur werden beobachtet und analysiert. Pflanzen und Tiere demonstrieren oft vorbildlich, wie bestimmte Herausforderungen am einfachsten und effizientesten bewältigt werden können. Die Erkenntnisse daraus und somit die Konzepte aus der Natur werden in technische Anwendungen und Lösungsstrategien umgewandelt.

Oft werden die Begriffe Bionik und Biomimikry gleichbedeutend verwendet. Genaugenommen lassen sie sich allerdings schon voneinander differenzieren: So sprechen ExpertInnen meist von Bionik, wenn es um Einzellösungen geht, wohingegen sich Biomimikry auf ein ganzes System bezieht.

Kleine Geschichte der Bionik

  • Der italienische Erfinder Leonardo da Vinci gilt als Pionier der Bionik. Im Jahr 1505 veröffentlichte er sein Manuskript „Über den Vogelflug“ und verwendete seine Erkenntnisse aus der Beobachtung der Tiere für den Entwurf von Flugmaschinen nach dem Vorbild von Vögeln und Fledermäusen. Auch einen Hubschrauber konstruierte da Vinci, bei dem ihm die Frucht des Schneckenklees als Vorlage diente.
  • Die erste bionische Erfindung in Deutschland wurde im Jahr 1920 von Raoul Heinrich Francé patentiert: Ein Salzstreuer mit seitlichen Öffnungen. Francé orientierte sich dafür an der Samenkapsel des Mohns.
  • Im Jahr 1948 entwickelte der Schweizer Ingenieur Georges de Mestral den Klettverschluss. Das Haftprinzip biegsamer Widerhaken hatte sich der Jäger von Kletten abgeschaut, die er nach Jagdausflügen immer wieder aus dem Fell seines Hundes entfernen musste.
  • In den 1950er Jahren prägte Otto Schmitt den Begriff „biomimetics“ bzw. „biomimicry“. Er beschrieb damit die „Nachahmung von Leben" (bios-Leben, mimesis-Nachahmung) – also im Prinzip das, was heute im deutschsprachigen Raum unter dem Begriff Bionik verstanden wird.
  • Der deutsche Begriff Bionik geht jedoch ursprünglich auf die Bezeichnung „bionics“ zurück, welche 1960 vom Luftwaffenmajor Jack E. Steele auf einer Konferenz erstmals verwendet wurde. [1] Im englischen Sprachraum begrenzt sich dieser Begriff zumeist auf die Konstruktion von künstlichen Körperteilen.

Anwendungsgebiete der modernen Bionik

Die Natur beeindruckt uns immer wieder mit ihrem riesigen Repertoire an Farben und Formen. Die Vielfalt der Lebewesen auf unserem Planeten ist allerdings nicht zufällig, sondern durch einen langen Evolutionsprozess über 3,8 Milliarden Jahre hinweg entstanden, und oft sind funktionale Wunderwerke das Ergebnis. Die Bionik hat dies erkannt und versucht, sich für technische Fragestellungen an oftmals genialen Lösungen der Natur zu orientieren und betrachtet Lebewesen mit dem Blick von TechnikerInnen.

Die sogenannte Analogieforschung versucht, die Lösung eines technischen Problems durch geeignete Vorbilder in der Natur zu finden. In einem „top-down-Prozess“ wird zunächst das Problem definiert. Analogien in der Natur werden gesucht, diese werden analysiert, und schließlich wird an Lösungen für das Problem getüftelt. Die Gebiete, auf denen es großes Potential für Bionik und Biomimikry gibt, sind weitreichend. Der deutsche Zoologe Werner Nachtigall, einer der Pioniere der Bionik, gliederte die Bionik in die drei übergeordneten Disziplinen Konstruktionsbionik, Verfahrensbionik und Informationsbionik, innerhalb derer sich wiederum viele Fachrichtungen finden [1]. Beispiele dafür, wo die Trickkiste der Natur als Vorbild dient und die Bionik heute bereits Anwendung findet, sind unter anderem:

  • Oberflächendesign
  • Konstruktion von Maschinen angewandt
  • Bauwesen und Architektur
  • Transportwesen
  • Verbundmaterialien
  • Robotik

Der Artikel liefert im weiteren Verlauf einen Überblick über konkrete Anwendungsbereiche in den verschiedensten Sektoren [2].

Oberflächendesign

  • Der Lotuseffekt zur Selbstreinigung: Der deutsche Botaniker Wilhelm Barthlott entdeckte Mitte der 1970er Jahre den so genannten Lotus-Effekt, der die Selbstreinigungsfähigkeit von pflanzlichen Oberflächen beschreibt [3]. Die Lotusblume besitzt eine einzigartige Kombination aus wasserabweisenden Pflanzenwachsen und einer geeigneten Mikro- bzw. Nanostruktur, der bereits künstlich nachgemacht wurde. Der Lotus-Effekt kommt heute mittlerweile bei schmutzabweisenden Lacken, Farben, Fassadenputz und anderen Oberflächenbeschichtungen zum Einsatz.
  • Klettverschluss: Der Klettverschluss wurde 1951 vom Schweizer George de Mestral entwickelt. Die kleinen Widerhaken, die er sich von den Früchten des Klett-Labkrautes abgeschaut hatte, patentierte er und brachte seine Erfindung unter dem Namen Velcro (velours- Schlaufe, crochet Haken) auf den Markt.
  • Klebstoffe aus der Natur: Auch das mechanische Haftungsvermögen von Geckos, Libellen, Spinnen und Muscheln hat BionikerInnen inspiriert. Die Füße der Tiere sind mit vielen feinen Haaren bedeckt, und diese geniale Erfindung der Natur wurde bereits zur Entwicklung von Klebstoffen nachgeahmt. Diese finden beispielsweise im Fahrzeugbau Anwendung.
  • Antifouling-Oberfläche gegen Schiffsbewuchs: Ein Bewuchs von Schiffen aus Muscheln, Algen und Seepocken vergrößert deren Reibungswiderstand im Wasser und somit auch den Treibstoffverbrauch. Nach dem Vorbild von Delfinhaut, die durch ihre physikalischen Eigenschaften vor diesem Befall geschützt ist, wurden „Antifouling“-Farben für einen Anstrich von Schiffen entwickelt [4].
  • Haifischhaut zum Schwimmen: Die Untersuchung der Hautschuppen von Haifischen führte zur Entwicklung anderer Oberflächenmaterialien: Die feinen Rillen der Haifischhaut reduzieren die Reibung und werden bei künstlich hergestellten Folien zur Verkleidung von Flugzeugen sowie für die Fertigung von Schwimmanzügen von HochleistungssportlerInnen imitiert [5].
  • Haftmaterial von Kraken: MaterialforscherInnen haben mittlerweile auch schon das Haftmaterial von Kraken kopiert. Dieses weist eine filigrane Struktur auf, die im Gegensatz zu den feinen Härchen des Gecko auch bei Feuchtigkeit klebt [6].

Flugverkehr

Auch die Luftfahrt kann von der Natur lernen. Die Bionik hat das Fliegen überhaupt erst ermöglicht - Leonardo da Vinci hat mit seinen Flugmaschinen hier Pionierarbeit geleistet.

  • Flugzeugbau: Heute fließen hier bereits verschiedenste bionische Konzepte mit ein. So dienen beispielsweise Vogelknochen als Vorbild für ein gewichtsoptimiertes Design, das trotzdem die nötige Stabilität bietet. Das Flügelprofil ist in der Luftfahrt Vogelflügeln nachempfunden, um optimalen Auftrieb zu haben etc. Es wurde sogar schon ein Flugzeug gebaut, das mit den Flügeln schlagen kann – ein so genannter Ornithopter. Diese Flugmaschine konnte sich jedoch nicht durchsetzen.
  • Gleitflieger und Fallschirme: Bei der Konstruktion dieser Flugobjekte wurde das Prinzip von Pflanzensamen nachgeahmt.

Bauen und Architektur

Es gibt mittlerweile die „Bau- oder Architekturbionik“, die Phänomene aus der Natur für Architektur und technische Funktionen von Gebäuden anwendet.

  • Baumstützen: Beim Bau des Stuttgarter Flughafens kamen spezielle Träger zum Einsatz, die als sehr filigrane Konstrukte nach dem Vorbild eines Waldes entstanden.
  • Lüftungssystem der Termiten: Das Prinzip der Lüftung von Termitenbauten wurde für Lüftungselemente von Bürogebäuden nachempfunden. Durch das Anlegen von Luftschächten, die ähnlich wie in einem Termitenbau zusammenhängen, können Gebäude fast ohne Heizung und Belüftungsanlage auf einer konstanten Innentemperatur gehalten werden.
  • Leichtbauweise: Auch für die Leichtbauweise von Gebäuden dient die Natur als wichtiger Ideenlieferant. Erkenntnisse aus dem Knochenbau werden für die moderne Leichtbauweise genutzt. Werden Stahlträger in Gebäuden nach dem Prinzip von Knochenbalken und Hohlräumen in Knochen angeordnet, kann besonders materialsparend gebaut werden. Ein prominentes Beispiel für diese spezielle Leichtbauweise ist der Eiffelturm in Paris.

Verbundmaterialien und Verpackungen

  • Hartes und bruchsicheres Perlmutt: Nach dem Vorbild von natürlichem Perlmutt, dem Baumaterial von Muscheln, konnte künstlich Keramik hergestellt werden. Dieser Verbundstoff – er besteht wie das Perlmutt aus unterschiedlichen Stoffen, daher der Name – hat sich als extrem fest und gleichzeitig äußerst zäh erwiesen.
  • Krebspanzer für Schutzkleidung und Panzermaterialien: Ein kleiner Krebs, der in den Tropen lebt, besitzt eine extrem harte Schutzschickt in seinem Panzer, der selbst dem heftigsten Aufprall standhält. Die Struktur dieses Panzers, der aus drei Schichten besteht, wurde nun für Schutzkleidung und Materialien zum Panzern nachempfunden. Diese ist hart, aber gleichzeitig vor Rissen und Brüchen geschützt. [7]
  • Baumrinde, Nuss- und Eierschalen als Verpackungsmaterial: In Zeiten der Klimakrise ist auch das Thema Plastik hochaktuell, und es wird vielerorts nach Alternativen fürs Verpacken gesucht. Hier könnten Bäume bzw. deren Rinde weiterhelfen: Diese kann durch ihre faserige Struktur mit vielen Hohlräumen mit geringem Gewicht, einem hohen Gehalt an Tannin, welches der Abwehr von Schädlingen dient, Wärme- und Kälteabwehr, Schutz vor ultravioletter Strahlung sowie Materialtransport für Nährstoffe und Abfallstoffe punkten. Auch Nuss- und Eierschalen sind bemerkenswerte natürliche Verpackungssysteme und schützen das Innere vor Stößen und Temperatureinflüssen. An umweltfreundlichen Verpackungsmaterialien nach diesen natürlichen Vorbildern wird aktuell noch gearbeitet.

Robotik und Sensorik

Auch natürliche Bewegungsabläufe von Tieren und Menschen werden analysiert und liefern Ideen für technische Anwendungsmöglichkeiten, beispielsweise als Vorbild für Roboter.

  • Wahrnehmung: Die Kenntnis der 3D-Wahrnehmung von Gottesanbeterinnen ist bereits in die Konstruktion einer speziellen Roboter-Navigation eingeflossen.
  • Fortbewegung: Es gibt auch schon Roboter, die wie Spinnen krabbeln oder wie Fische schwimmen. [8]
  • Sinneswahrnehmung: Auch einen Roboterarm, der fühlen kann, gibt es bereits.

Biomedizin

Das Beobachten von Abläufen in der Natur hat auch in der Biomedizin zu zahlreichen Neuerungen geführt. So etwa bieten heute „Bionische“ Prothesen bereits zusätzliche Funktionen im Vergleich zu herkömmlichen, wie beispielsweise eine sensorische Rückkopplung, erweiterte Bewegungsmöglichkeiten, eine möglichst intuitive Steuerung der Bewegungen und eine natürlichere Kosmetik. Näheres zur sogenannten Bionischen Rekonstruktion ist auch auf der Website der MedUni Wien nachzulesen. Und eine Kurzmeldung auf der Website von Open Science informiert über die Anwendung von Spinnenseide in der Medizin.

Potenzial und Perspektiven

Bionik und Biomimikry könnten für die Probleme der Menschheit eine große Hilfe sein. So etwa wird das Verhalten von Tieren - wie beispielsweise Bienen oder Vögeln - in Gruppen untersucht, um deren kommunikatives Verhalten zu verstehen. Die beobachteten Mechanismen der Natur lassen sich auch auf Unternehmen, Organisationen und andere menschengeschaffene Systeme übertragen. Mithilfe bionischer Schwarmdaten sollen in Zukunft beispielsweise autonom fahrende Autos geregelt werden. Hummeln könnten optimierte Kfz-Routen aufzeigen und zum Umweltschutz beitragen, da es so zu weniger Emissionen kommen würde. Auch für Kreisläufe, Abfallvermeidung und Widerstandsfähigkeit soll die Biomimikry in Zukunft wichtige Ansätze liefern.

Gibt der Fortschritt dank Bionik und Biomimikry einerseits Hoffnung für die Zukunft, so gibt es hier teilweise auch kritische Stimmen: Vor allem der Nachbau von Roboter(teilen) nach Vorbild des Menschen wird oft auch mit Skepsis verfolgt. Roboter können heute schon komplexe Handlungen wie das Greifen und Orientieren eines Gegenstands selbst erlernen. Viele sehen hier eine große Gefahr, ob die Technik die Natur nicht einmal überholen wird.

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as, 23.12.2019


Quellenangaben

[1] Nachtigall W.: Bionik - Grundlagen und Beispiele für Ingenieure und Naturwissenschaftler (2002), Springer-Verlag

[2] Österreichische Akademie der Wissenschaften, Institut für Technikfolgenabschätzung: Bionik-Potenzial in Österreich, Endbericht. (2006)

[3] Cerman Z., Stosch AK. und Barthlott W.:Der Lotus-Effekt (2004), Biologie in unserer Zeit 34(5), 290-296.

[4] Baum C., Siebers D., Fleischer LG und Meyer W.: Eine Delfinhaut für Schiffe (2004). Biologie in unserer Zeit 34(5), 298-305.

[5] Krieger K.: Do Pool Sharks Swim Faster? (2004). Science 305(5684), 636-637

[6] Baik S., Kim DW, Park Y. et al.: A wet-tolerant adhesive patch inspired by protuberances in suction cups of octopi (2017). Nature 546, 396–400 (2017) doi:10.1038/nature22382

[7] Weaver JC, Milliron GW, Miserez A. et al.: The Stomatopod Dactyl Club: A Formidable Damage-Tolerant Biological Hammer (2012). Science 08 Jun 2012: Vol. 336, Issue 6086, pp. 1275-1280

[8] Oö. Zukunftsakademie: Bionik Innovation aus der Natur (2018).