Molekulare Kleber: Gezielter Proteinabbau als neuer Ansatz gegen Krebs

Mechanismus des gezielten Proteinabbaus, Bild: Proxygen

Das Wiener Jungunternehmen Proxygen setzt beim Kampf gegen Krebs und andere Krankheiten auf das Eliminieren krankmachender Proteine. Für seinen innovativen Ansatz wurde das Start-up bereits mit einem internationalen Preis ausgezeichnet.

Die Corona-Krise hat wieder einmal verdeutlicht, wie wichtig die medizinische Grundlagenforschung und die Entwicklung neuer Medikamente und Therapien sind. In Österreich spielt das Vienna BioCenter (VBC) in diesem Hinblick eine wichtige Rolle, denn hier findet ein Großteil der Forschung und Entwicklung unseres Landes statt. Neben großen Forschungsinstituten, verschiedenen Fachbereichen der Universitäten (Medizinische Universität und Universität Wien) und der FH Campus Wien, etablierten Biotech-Firmen und vielen anderen Institutionen sind hier auch etliche Start-up-Unternehmen angesiedelt.

Gezielter Abbau von krankmachenden Proteinen

Eines dieser Jungunternehmen am VBC ist die Proxygen GmbH, welche Mitte 2020 als Spin-Off des Forschungszentrums für molekulare Medizin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (CeMM) gegründet wurde. Ziel des Start-Ups ist es, innovative Wirkstoffe gegen Krebs und andere Erkrankungen zu entwickeln.

Neben den klassischen Therapieformen gegen Krebs gibt es heute auch einige neue Forschungsansätze: Diese zielen beispielsweise darauf ab, auf Ebene der DNA mittels Gentherapie einzugreifen, um Defekte in den Zellen von Kranken zu beheben. Auch verschiedene Hemmer kommen zum Einsatz, um die Aktivität schädlicher Proteine in der Zelle zu blockieren.

Proxygen verfolgt beim Kampf gegen Krebs und andere Krankheiten einen alternativen und äußerst innovativen Ansatz: Das Start-Up setzt auf den Abbau krankheitsverursachender Proteine durch das Proteasom – einen wichtigen Proteinkomplex für den kontrollierten Abbau von Proteinen, der quasi die „Müllabfuhr“ der Zelle darstellt. Die Idee dahinter ist folgende: Durch das Eliminieren von Proteinen, die bei Krebs eine Rolle spielen, soll die Krankheit geheilt werden. In vielen Krebsarten sind beispielsweise Proteine, die den Zellyklus regulieren hochreguliert und ein möglicher Angriffspunkt für den gezielten Proteinabbau.

Der zielgerichtete Proteinabbau (targeted protein degradation, TPD) hat enormes Potential und stößt aktuell in der chemischen Biologie und der Wirkstoffentwicklung auf großes Interesse. Die Hoffnung ist, damit wirksamere Medikamente für die Behandlung von Krankheiten wie Krebs entwickeln zu können.

Molecular Glues und PROTACS

Aktuell kommen zwei unterschiedliche Klassen von Proteinabbauern zum Einsatz: PROTACs (PROteolysis TArgeting Chimeras) und “Molekulare Kleber” (Molecular Glues oder Molecular Glue Degraders) – beides kleine Moleküle, welche Zellbarrieren passieren können.

PROTACs bestehen aus zwei Protein-bindenden Molekülen, die durch einen Linker miteinander verbunden sind. Das eine Molekül der PROTACs bindet spezifisch an das Zielprotein, das abgebaut werden soll. Das andere Molekül rekrutiert die E3 Ubiquitin Ligase – ein spezielles Enzym, welches das Protein Ubiquitin auf ein anderes Protein übertragen und dieses so für den Abbau durch das Proteasom markieren kann. In weiterer Folge wird das Zielprotein durch das Proteasom abgebaut.

Mechanismus der PROTACs. E2, E3: Ubiquitinligasen; Ub = Ubiquitin; PROTAC = proteolysis targeting chimera; target = Protein, das abgebaut werden soll, Bild: Adaptiert von: Anypodetos (CC0, via Wikimedia Commons )

Molekulare Kleber gegen Krebs

Proxygen setzt bei seiner Forschung und Entwicklung auf spezielle Arzneimittel, die „Molecular Glues“ oder „Molecular Glue Degraders“. Auch diese zielen darauf ab, krankmachende Zielmoleküle vom zelleigenen Entsorgungssystem gezielt abbauen zu lassen. Im Unterschied zu PROTACs bestehen sie jedoch aus nur einer Einheit, welche die Distanz zwischen Zielprotein und Ubiquitin-Ligase überbrückt. Die molekularen Kleber vermitteln so die Bindung zweier Proteine aneinander, die das normalerweise nicht tun würden: Ubiquitin-Ligasen binden an die krankmachenden Zielproteine und markieren diese somit für den Abbau.

Während für herkömmliche kleinmolekulare Arzneimittel eine definierten Bindungsstelle auf der Oberfläche eines Zielproteins benötigt wird, ist das für die molekularen Kleber nicht mehr vonnöten. Somit eröffnet sich hier auch die völlig neue Möglichkeit, bei Proteinen einzugreifen, die zuvor als medikamentös nicht behandelbar galten.

Die Entdeckung von Molecular Glues war bisher eher glücklichen Zufällen zu verdanken. Um diese Einschränkung zu überwinden, entwickelte Proxygen eine ausgeklügelte Screening-Methode zum Aufspüren neuer molekularer Kleber. Das Ziel des Start-Ups ist die systematische Suche nach neuartigen Molecular Glue Degraders, welche das Wachstum von Blutkrebszellen unterbinden, und eine Implementierung dieser Moleküle in die klinische Praxis.

Wichtige Kooperation mit Boehringer Ingelheim

Die Molecular Glue Degraders Plattform des Start-Ups kann ein bedeutender Bestandteil von Strategien zur Tumorbehandlung werden, und dafür interessieren sich auch Pharmafirmen. War die Identifizierung von molekularen Klebern zum Abbau von Proteinen bisher eher unvorhersehbar, eröffnet die Molecular Glue Degraders Forschungsplattform von Proxygen nun neue Möglichkeiten: Einen zielorientierten und umfassenden Weg hin zu einer verbesserten Identifizierung von Molecular Glue Degrader Kandidaten.

So werden in Zukunft auch jene Proteine für Behandlungen zugänglich, die zwar als bedeutende Krankheitstreiber bekannt sind, aber bisher für eine Behandlung mit Medikamenten nicht greifbar waren. Die Molecular Glue Degraders gelten daher als eine der vielversprechendsten therapeutischen Innovationen der letzten Jahrzehnte. Auf die Expertise von Proxygen baut mit Boehringer Ingelheim bereits einer der ganz großen Namen in der Industrie. Große Hoffnungen liegen hier unter anderem in der schnellen Entwicklung neuer Therapien für den hohen ungedeckten medizinischen Bedarf vieler PatientInnen mit Lungen- und Dickdarmkrebs.

Proxygen wurde für seine herausragende Arbeit von Boehringer Ingelheim bereits vor dieser Kooperation mit dem Grass Roots „Innovation Prize“ ausgezeichnet. Dieser honoriert die Innovationskraft junger Life-Science-Unternehmen und Biotech-GründerInnen und deren Beitrag zum Aufbau von Forschungspipelines für die nächste Generation von Arzneimitteln. Das österreichische Start-up ist der erste europäische Preisträger.

Startup-Labs Vienna

Proxygen ist eines von rund einem Dutzend Jungunternehmen, die in den Startup Labs Vienna angesiedelt sind. Mit den Startup Labs stehen ForscherInnen seit 2020 insgesamt 60 Labor- und 30 Büroarbeitsplätze am Vienna BioCenter zur Verfügung. Auf einer Fläche von rund 1.100 m² können JungunternehmerInnen hier günstige Arbeitsplätze mieten. Dabei ist die Laboreinrichtung flexibel und richtet sich nach den tatsächlichen Bedürfnissen der Start Ups. Außerdem stehen ihnen eine gemeinsam nutzbare Infrastruktur und diverse Services am Campus, in den sie eingebettet sind, zur Verfügung. Der Hintergedanke dieses „Share-Prinzips“ ist folgender: Durch das Bereitstellen der Räume und der Infrastruktur müssen die ForscherInnen keine kostenintensiven Investitionen tätigen. So können sie sich besser auf ihre Kernaufgaben konzentrieren und noch schneller durchstarten. Auch Unterstützung von den „Big Players“ der Branche gibt es für die Jungen am VBC. So etwa gibt es Kooperationen von Boehringer Ingelheim mit den Start-up, die sich im Fall von Proxygen schon als großer Vorteil erwiesen hat.

 

Näheres zu Proxygen:

https://proxygen.com/

https://cemm.at/research/tech-transfer/spin-offs/proxygen-gmbh

https://www.boehringer-ingelheim.de/pressemitteilung/kooperation-proxygen-selektiver-abbau-krebsverursachender-proteine

Näheres zu den Startup Labs Vienna:

https://www.viennabiocenter.org/about/news/startup-labs-at-the-vienna-bio-center-open-their-doors/

 

Publikation zum Screen für neue Molecular Glue Degraders

Mayor-Ruiz C., Bauer S., Brand M. et al.: Rational discovery of molecular glue degraders via scalable chemical profiling. Nat Chem Biol 16, 1199–1207 (2020). https://doi.org/10.1038/s41589-020-0594-x

 

Dieser Artikel ist Teil einer Artikelserie von Open Science zum Forschungsstandort Österreich.

as, 07.12.2021